Donnerstag, 1. September 2016

Die Ernie-Offensive

»99,99 Prozent aller Grenzen sind nur im Kopf« stand auf einer kleinen Karte, die mir Designer Michael Zimmer aus Saarbrücken vor ein paar Jahren zu Weihnachten schickte.

Ich denke oft an diese Behauptung und weiß heute, das Michael Zimmer recht hat. Die Grenzen im eigenen Kopf sind die größten Hindernisse in unserem Leben — das erfahre ich immer wieder in meiner Arbeit als Designer und Trainer für Kreativität. Besonders der Glaube, etwas nicht zu können, hält uns Erwachsene davon ab, unserer schöpferische Kraft auszuleben.



Kleine Kinder haben diese Probleme nicht. Sie haben noch keine Angst etwas falsch zu machen oder die Erwartungen nicht zu erfüllen. Diese kreative Freiheit verblasst leider schnell im Laufe der Erziehung. Viele Ratgeber für Eltern sind sich einig: »Kinder brauchen Grenzen.« Darum lernen wir sehr früh was richtig ist und was falsch. Diese Einteilung wird in der Schule bis zur Abschlussprüfung in die Köpfe gemeißelt. Eine Leistung, die die Vorgaben erfüllt ist richtig und wird gut benotet. Alles was den Erwartungen der Lehrer nicht entspricht, ist falsch und wird schlecht benotet. Die Angst vor einer schlechten Bewertung wird fest in unserem Kopf verankert und zieht sich durch unser ganzes Leben. Wir lernen, dass es besser ist, nichts tun, als etwas, was den Erwartungen anderer nicht entsprechen könnte.
Aber nicht nur die Angst, Erwartungen nicht erfüllen zu können, errichtet unüberwindbare Mauern im Kopf, auch das intensive Training der linken Gehirnhälfte in der Schulzeit, verstärkt die Grenzen, die uns vor dem Unbekannten schützen sollen. Die linke Hemisphäre ist zuständig für Logik, Sprache und Zahlen. Für sie gibt es nur schwarz und weiß. Sie kümmert sich um die Details. Und das schön der Reihe nach. Dank der linken Gehirnhälfte herrscht Disziplin, Ordnung und Termintreue in unserem Bewusstsein. Diese Hälfte in meinem Kopf nenne ich Bert.
Meine rechte Gehirnhälfte nenne ich Ernie. Ernie macht genau das Gegenteil von Bert. Ernie ist chaotisch. Er guckt sich lieber schöne Bilder an, als ein gutes Buch zu lesen und vergisst ständig die Zeit, bei Dingen, die ihm Spaß machen. Ernie interessiert sich nicht für die Details. Er hat den Blick fürs Ganze.
Zum Glück war ich in der Schule nie besonders diszipliniert, geordnet und fleißig. Meine Lehrer haben immer gesagt, ich sei ein Saisonarbeiter. Eine Saison Ernie. Eine Saison Bert. Meine Mutter habe ich damit oft zur Verzweiflung gebracht. Ich selber fand, es war eine gute Strategie, um die Schulzeit zu überstehen.
Wir kommen also als Ernie in die Schule und verlassen sie als Bert. Ist das wirklich so? Ich wollte das überprüfen und habe zu Hause ein Experiment gestartet. Die Aufgabe: Zeichne ein Pferd. Zuerst habe ich meine Tochter gefragt. Alter: 4 Jahre. Bildungsstand: elterngeführter Kindergarten, rote Gruppe. Das Ergebnis: Ein wildes, buntes Bild mit einem tierähnlichen Wesen und anderem Zeug drumherum. Dann habe ich meinen Sohn gefragt. Alter: 9 Jahre. Bildungsstand: staatliche Grundschule, 3. Klasse. Das Ergebnis: Ein sorgfältig mit Bleistift gezeichnetes Pferd mit Reiter. Mittig auf dem Blatt. Mit seinem Namen drauf. Die Hinterbeine des Pferdes radiert und korrigiert. Deutlich zu erkennen: Bert hat die Kontrolle übernommen. Als letztes war meine Frau an der Reihe. Alter: 39. Bildungsstand: Abitur, Bankausbildung, Journalismus-Studium. Das Ergebnis: –
Das berühmte weiße Blatt Papier. Eine unüberwindbare Grenze. Komplette Erstarrung. Lieber nichts tun, als den selbst auferlegten Erwartungen nicht zu entsprechen. Fluchtgedanken. »Ich kann nicht zeichen,« war die Antwort. »Doch, Du kannst zeichnen. Jeder kann zeichnen. Glaube mir,« sagte ich. »Ok, ich beweise Dir, dass ich nicht zeichnen kann,« waren ihre Worte und sie legte los. Das Ergebnis: Ein Pferd. Ein Pferd, dass aussieht, als würde es eine Vollbremsung machen. Meine Frau war erstaunt und auch ein wenig stolz auf ihre schöpferische Leistung.
Kreativität ist die Fähigkeit, etwas zu erschaffen, was vorher noch nicht da war. So wie das Pferd auf dem weißen Blatt Papier. Diese Transformation von gedanklicher Energie in wahrnehmbare Materie ist die Hauptaufgabe in einem Designprozess. Der Designer ist dabei der Wandler zwischen den Welten. Er muss sich die Dinge, die es noch nicht gibt, vorstellen und visualisieren können. Und zwar so konkret und verständlich, dass alle Beteiligten die gleiche Vorstellung davon haben, was es mal werden soll. Erst dann kann ein geordneter Plan im Detail terminiert und umgesetzt werden.
Wie weit darf ich als Kreativer gehen? Welche Vorgaben muss ich einhalten? Welche Grenzen darf ich auf keinen Fall übertreten? Diese Fragen sollte bei der Klärung von Vorstellungen und Erwartungen unbedingt diskutiert werden. Am Anfang wünschen sich Kunden oft geniale, außergewöhnliche und aufmerksamkeitsstarke Ideen. In Wirklichkeit jedoch, haben Sie am Ende nur Mut für eine ganz vernünftige Lösung.
Irgendwann kam mir die Idee, den Entscheidungsprozess des Kunden umzukehren. Ich beginne mit der Entwicklung und Präsentation einer ganz vernünftigen Lösung, um am Ende eine originelle Idee durchzusetzen. Mit diesem Ansatz mache ich gute Erfahrungen.
Wie funktioniert das genau?
Als erstes stelle ich mir die Frage: »Wie sieht die langweiligste Lösung aus?« Die Antwort ist schnell visualisiert. Ganz ohne Denkblockaden. Das Ergebnis präsentiere ich dem Kunden und einige mich mit ihm darauf, das es das Mittelmaß darstellt, dass es zu brechen gilt. Wenn die Norm definiert ist, beginne ich mit den einzelnen Elementen zu spielen. Ich nehmen etwas weg, tausche aus und füge wieder etwas hinzu. Das mache ich solange, bis mir nichts mehr einfällt.
Dann recherchiere ich, wie es andere bereits gemacht haben. Ich sammle die Elemente, die mir gefallen, fange an damit zu spielen und sie mit den bisherigen Entwürfen zu verknüpfen.
Dann lasse ich alles mindestens eine Nacht liegen.
Bisher war Bert der aktivere Part in meinem Kopf. Er hat die Norm festgelegt, Details gesammelt, Elemente zerlegt und wieder neu geordnet. Wenn Bert von der vielen Arbeit so müde geworden ist, dass er eingeschlafen ist, kann Ernie beginnen, sich auszutoben. Das passiert bei mir oft in der Nacht. Oder wenn ich mit dem Hund spazieren gehe. Auf jeden Fall immer dann, wenn ich nicht mehr aktiv über das Problem nachdenke. In diesen Momenten gibt es keine Grenzen im Kopf. Keine Vorgaben. Keine Erwartungen. Pure Kreativität. Die es, so schnell es geht, festzuhalten gilt. In Wort und Bild. Denn Sie ist genauso schnell wieder weg, wie sie gekommen ist.
Jetzt folgt die sensible Synthese der Bert-Ideen und der Ernie-Ideen. Ich mache ich eine Entwicklungs-Reihe, die ich mit dem Kunden abstimme und stelle wieder die Frage:

Wie weit darf ich als Kreativer gehen?

Der Artikel wurde zuerst auf meinem Online-Magazin Idea Thinking veröffentlicht: https://medium.com/idea-thinking

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen